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Hagen Lesch / Christoph Schröder IW-Kurzbericht Nr. 10 10. Februar 2022 Wie die Bundesregierung die Mindestlohnkommission brüskiert

Mit der vorgesehenen Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro zum Oktober 2022 hebelt die Bundesregierung den geltenden Beschluss der Mindestlohnkommission aus und brüskiert damit die Kommission. Durch den Paradigmenwechsel hin zu bedarfsgerechten Löhnen delegiert der Staat seine sozialpolitische Verantwortung an die Sozialpartner.

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Wie die Bundesregierung die Mindestlohnkommission brüskiert
Hagen Lesch / Christoph Schröder IW-Kurzbericht Nr. 10 10. Februar 2022

Wie die Bundesregierung die Mindestlohnkommission brüskiert

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Mit der vorgesehenen Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro zum Oktober 2022 hebelt die Bundesregierung den geltenden Beschluss der Mindestlohnkommission aus und brüskiert damit die Kommission. Durch den Paradigmenwechsel hin zu bedarfsgerechten Löhnen delegiert der Staat seine sozialpolitische Verantwortung an die Sozialpartner.

Die Bundesregierung hat ihre Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag wahr gemacht und im Januar 2022 den Entwurf eines Mindestlohnerhöhungsgesetzes (MiLoEG) vorgelegt, der eine Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro je Stunde ab Oktober 2022 vorsieht (BMAS, 2022). Gleichzeitig wird der im Juni 2022 turnusgemäß anstehende Termin für eine Beschlussfassung zur Anpassung des Mindestlohns durch die Mindestlohnkommission ausgesetzt und auf Juni 2023 verschoben. Mit diesem Vorgehen wird das im Mindestlohngesetz (MiLoG) eingeräumte Recht auf Beschlussfassung der Mindestlohnkommission suspendiert. Dieser Vorgang kommt einer Brüskierung der Mindestlohnkommission gleich, schließlich hatte der Kommissionsvorsitzende im Jahr 2021 öffentliche Kritik an dem von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil angekündigten Vorschlag geübt und sich gegen eine politische Einmischung in die Beschlussfassung der Mindestlohnkommission gewandt (Zilius, 2020).

Das Vorgehen der Bundesregierung wirft mehrere Fragen auf: Die Frage nach der ökonomischen Bewertung einer Mindestlohnanpassung von 22,2 Prozent (gegenüber dem Stand von Januar 2022), die Frage nach der sozialpolitischen Funktion eines gesetzlichen Mindestlohns im Speziellen und eines Tariflohns im Allgemeinen und drittens die Frage nach dem Stellenwert der Tarifautonomie im deutschen System der Lohnfindung.

Durch die Mindestlohnanhebungen im Jahr 2022 entkoppelt sich die Mindestlohn- von der allgemeinen Tariflohndynamik (Grafik). Zur Frage nach der ökonomischen Bewertung sei hier auf die Begründung des MiLoEG verwiesen. Dort heißt es in knapper Form, die Lohnkosten der betroffenen Arbeitgeber würden 2022 um 1,63 Milliarden Euro steigen und die daraus folgenden Preiswirkungen könnten nicht abgeschätzt werden. Dafür würden bei der Sozialversicherung Mehreinnahmen in Höhe von 0,7 Milliarden Euro anfallen und Altersarmut sowie Aufstockung (ergänzender Bezug von Sozialleistungen im Bereich der Grundsicherung) vermindert. Damit setzt der Referentenentwurf die monetären Auswirkungen sehr niedrig an. So geht das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung auf Basis von Simulationsrechnungen bei unveränderten Lohnstrukturen und Arbeitszeiten von einem Lohnimpuls von 0,6 Prozent bis 0,9 Prozent aus (Dullien et al., 2022, 6). Der höhere Wert schließt dabei Spillover-Effekte durch Lohnerhöhungen knapp oberhalb des Mindestlohns ein. Dies sind bezogen auf die Bruttoentgeltsumme 9 bis 13,5 Milliarden Euro und bezogen auf das Arbeitnehmerentgelt sogar 11 bis knapp 17 Milliarden Euro. Offenbar geht das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) also von starken Ausgleichsmechanismen – möglicherweise wird eine sinkende Arbeitszeit erwartet – aus. Steigen die Arbeitskosten aber nur so schwach wie vom BMAS errechnet, ist auch nicht mit den gewünschten starken Verteilungseffekten zu rechnen. Von Beschäftigungsrisiken ist in dem Entwurf keine Rede. Das könnte daran liegen, dass der Mindestlohn laut Entwurf bisher weder negative Beschäftigungseffekte hervorgerufen noch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beeinträchtigt habe. Offenbar geht die Bundesregierung davon aus, dass die geplante Erhöhung nicht anders wirken wird als die induzierten Lohnerhöhungen im Zuge der Mindestlohneinführung.

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Die zweite Frage betrifft die Funktion des Mindestlohns. Ursprünglich sollte der Mindestlohn eine Art untere Auffanglinie darstellen und vor allem dort greifen, wo keine Tarifverträge galten. Er sollte Arbeitnehmer vor „unangemessen niedrigen Löhnen“ schützen (Deutscher Bundestag, 2014, 1 und 27). Jetzt wird gefordert, dass der Mindestlohn bei Ausübung einer Vollzeiterwerbstätigkeit „bedarfsgerecht“ ist, eine „armutsver-meidende Altersrente“ erreicht und eine „gesellschaftliche Teilhabe“ ermöglicht, worunter eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben sowie die Möglichkeit zur Vorsorge für unvorhergesehene Ereignisse verstanden wird (BMAS, 2022, 5 ff.). Damit übersieht das BMAS aber die Einführung der Grundrente. Sie führt dazu, dass die Rentenansprüche nach 35 Jahren Vollzeittätigkeit in einem weiten Korridor zwischen gut 8 Euro und knapp 17 Euro Stundenlohn kaum variieren. Daraus folgt: Jemand, dessen Rentenansprüche auf einem Stundenlohn von 10,45 Euro basieren würden, bekäme durch die Grundrente kaum weniger als jemand, dessen Rentenansprüche auf einem Stundenlohn von 12 Euro berechnet werden. Schließlich wird eine neue Armutsdefinition aufgemacht. Soll schon die Grundsicherung ein menschenwürdiges Existenzminimum gewähren, liegt die Schwelle für Armutsgefährdung nach EU-Definition bei 60 Prozent des Nettoeinkommens. Dieser Wert liegt in der Regel über dem Grundsicherungsniveau und wird in Deutschland mit der Anhebung des Mindestlohns auf 10,45 Euro in etwa erreicht. Dagegen verweist das BMAS auf die internationale Mindestlohnforschung, die einen Mindestlohn als angemessen betrachtet, wenn dieser bei 60 Prozent des Bruttomedianlohns liegt. Hinter diesem Konstrukt steht die Intention eines Living Wage, die vor allem in Großbritannien seit einigen Jahren diskutiert wird und dort Grundlage der Mindestlohnentwicklung ist (Lesch/Schneider/Schröder, 2021, 203 ff.). Dies lässt jedoch außer Acht, dass die 60-Prozent-Marke allenfalls als grobe Annäherung zu verstehen ist, da der Living-Wage-Ansatz ursprünglich zunächst ein auskömmliches Nettoeinkommen definiert, aus dem dann der erforderliche Bruttolohn zurückgerechnet wird (Schröder, 2021, 5 ff.). Damit variiert der Living Wage auch mit Änderungen des Steuer- und Transfersystems.

Eine Weiterentwicklung des gesetzlichen Mindestlohns in Richtung Living Wage hätte auch Implikationen für die Tarifpolitik: Soll in einem Arbeitsverhältnis nach der Leistung vergütet werden oder soll auch der Bedarf eines Arbeitnehmers in die Lohnhöhe einfließen? Bei dieser Frage geht es darum, ob Sozialpolitik primär Aufgabe des Staates oder der Tarifvertrags- und Arbeitsvertragsparteien sein soll. Es geht um einen Paradigmen- und Systemwechsel, bei dem weniger über das Steuer- und Transfersystem und dafür mehr über das Lohnsystem umverteilt werden soll. Unter Bezugnahme auf die Gerechtigkeitsanforderungen aus Art 2 (1) und Art. 20 (1) GG delegiert der Staat mit dem MiLoEG seine sozialpolitische Verantwortung an die Tarifvertrags- und Arbeitsvertragsparteien. Instrument ist eine staatliche Lohngesetzgebung, die weitreichend in bestehende Tarifverträge eingreifen wird.

Dies leitet zur dritten Frage über, dem Stellenwert von Tarifautonomie. Das MiLoEG verdrängt nicht nur Tarifverträge und präjudiziert künftige Tariflohnsteigerungen, sondern suspendiert auch die autonome Mindestlohnanpassung der Mindestlohnkommission. Ein solcher Vorgang soll einmalig sein, lässt sich aber mit einfacher Gesetzgebung jederzeit wiederholen. Die Formulierung des Referentenentwurfs öffnet hierzu Tür und Tor. Denn einerseits werden die Anpassungskriterien des Mindestlohngesetzes nicht geändert. Die Kommission soll weiterhin in einer Gesamtabwägung entscheiden, „welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden“ (§9, Abs. 2 MiLoG). Dabei soll sie sich nachlaufend an der Tarifentwicklung orientieren. Andererseits wird in der Begründung des MiLoEG, wie oben beschrieben, eine Erhöhung in Richtung Living Wage angestrebt. Damit wird die von der Kommission gewählte Regelbindung von Mindestlohnanpassungen – nachlaufend zur Tariflohnentwicklung – einer politischen Beliebigkeit des fallweisen Eingriffs geopfert. Was durch eine unabhängige Kommission verhindert werden sollte, droht zum politischen Alltag zu werden: Der Mindestlohn als Zankapfel der Politik. Damit wird die Kommission einem permanenten politischen Druck ausgesetzt. Der Wille zur autonomen Gestaltung dürfte dadurch Schaden nehmen. Dieser Druck ließe sich – ebenso wie künftige Eingriffe – verhindern, indem die Autonomie der Kommission rechtlich gestärkt wird und vor allem die Gewerkschaften nicht den Schulterschluss mit dem Staat, sondern dem Sozialpartner suchen.

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