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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 6. September 2024

Deutschland blockiert sich selbst

Um die großen Transformationsaufgaben zu bewältigen, müssen sich Finanz- und Geldpolitik endlich gänzlich der Herausforderung bewusst werden – und Kompromisse schließen, schreiben IW-Direktor Michael Hüther und Ernst-Ludwig von Thadden, Professor für Mikroökonomik und Finance an der Universität Mannheim, in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt.

Die vergangenen Jahre haben große wirtschaftliche Strukturdefizite in Deutschland bloßgelegt, die schon lange unterfinanziert, strategisch unterschätzt und jetzt aus unterschiedlichen Gründen von höchster Dringlichkeit sind. Dazu gehören wichtige Bereiche der öffentlichen Infrastruktur wie Verkehr, Energie und Digitalisierung. Auch nominal höhere Investitionen der vergangenen Haushaltsjahre haben den Trend des Qualitätsverlustes nicht drehen können (alle Verkehrsnetze) und die für die Wettbewerbsfähigkeit notwendige Leistungsfähigkeit nicht erreicht (Energie und Breitbandausbau). Auch der Zustand der Bundeswehr ist angesichts der geopolitischen Lage mehr als besorgniserregend.

Das Land befindet sich in einer fiskalpolitischen Notlage von historischem Ausmaß

Diese Aufgaben erfordern massive, langfristige öffentliche Investitionen. Aber es ist nicht klar, ob Politik und Gesellschaft den Willen haben, diese zu schultern. Zudem hat die Bundesrepublik unlängst mehrere außergewöhnliche und außergewöhnlich große makroökonomische Schocks erfahren, insbesondere die Covid-19-Pandemie sowie die sozialpolitische Belastung durch die massive Flüchtlingswelle aus der Ukraine und die hohen Ausgaben für ihre militärische Unterstützung.

All dies vereint sich zu einer fiskalpolitischen Notlage von historischen Ausmaßen und verfassungsrechtlichen Herausforderungen. Diese wird durch die Alterung der Gesellschaft und den nötigen klimaresilienteren Umbau von Stadt und Land verschärft. In einer solchen Situation ist der vorbehaltlose Blick auf alle Handlungsoptionen geboten. Es gibt hierzu vier klassische finanzpolitische Instrumente der öffentlichen Hand: Steuern erhöhen, Schulden machen, die öffentliche Ausgaben umschichten und die Geldpolitik flexibilisieren.

Eine umfassende Debatte über alle finanzpolitischen Instrumente ist unabdingbar

In einer Notlage der jetzigen Größenordnung muss der Einsatz aller dieser Instrumente diskutiert werden. Doch Deutschland ist in einer Situation, in der eine Nutzung der ersten beiden Instrumente politisch wechselseitig blockiert sowie im Steuerwettbewerb beschränkt wird. Das dritte Instrument verursacht massive Verteilungskonflikte und wird damit politisch explosiv. Das vierte Instrument ist in eine überstaatliche transnationale Institution ausgelagert.

Zur Bewältigung des Klimaproblems wird der CO2 -Preis durch Zertifikatpreise und Karbonsteuern bald stark steigen müssen. Da die Preisanpassungen asymmetrisch sind und Verhalten und Verbrauch nur verzögert reagieren, treibt dies zumindest kurzfristig wichtige Preise (Heizung, Verkehr, Bau) nach oben. Das verschärft die Problemlage, weil es die finanziellen Spielräume aller volkswirtschaftlichen Akteure kurzfristig verengt – so lange jedenfalls, bis die Anpassungseffekte überwiegen.

Das wird bestehende Verteilungskonflikte verschärfen und breiten Widerstand gegen die Ausweitung und Erhöhung von Umweltsteuern mobilisieren. Zudem werden die dadurch kurzfristig verursachten inflationären Schübe die Europäische Zentralbank (EZB) vermutlich zu Zinserhöhungen bewegen, die die wirtschaftliche Entwicklung bremsen und damit dem erforderlichen technischen Wandel das Wasser abgraben.

Dem wäre abgeholfen, wenn die Zentralbank auf die strukturellen Veränderungen der Angebotsseite reagierte und ihre Inflationsnorm sowie deren Umsetzung entsprechend anpasste. Das wäre mit Verweis auf die Exogenität der Preisniveauveränderungen begründbar, würde aber ein gemeinsames europäisches Vorgehen erfordern.

Aus dem folgt: Wir brauchen eine umfassende Debatte über die passenden fiskalpolitischen und geldpolitischen Antworten in dieser historischen Situation und damit auch über alle vier finanzpolitischen Instrumente, um die anstehenden Transformationsaufgaben volkswirtschaftlich effizient und effektiv zu bewältigen.

„Natürlich müssen zukünftige Steuerzahlergenerationen an den jetzigen Sonderausgaben beteiligt werden, aber eben auch die gegenwärtige.“

Es ist darüber zu sprechen, wie die Steuereinnahmen zu erhöhen wären – vor allem über den Abbau von Steuersubventionen. Man sollte darüber entscheiden, höhere Staatsschulden zu ermöglichen – etwa durch eine Reform der Schuldenbremse. Es ist ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, wie die öffentlichen Ausgaben umgeschichtet und bisherige Ausgaben reduziert werden können. Und man sollte gemeinsam mit den europäischen Partnern über Wege nachdenken, die Geldpolitik zu flexibilisieren – etwa durch eine Berücksichtigung der Klimatransformation im Mandat der EZB.

Sozialleistungen umzustrukturieren oder wichtige gesamtwirtschaftliche Preise zu erhöhen ist gerechter und glaubwürdiger, wenn alle gemäß ihrer Leistungsfähigkeit zur Kasse gebeten werden und wenn alle Parteien Kompromisse machen. Auch intergenerationell ist das richtig: Natürlich müssen zukünftige Steuerzahlergenerationen an den jetzigen Sonderausgaben beteiligt werden – das Argument für erhöhte Staatsschulden -, aber eben auch die gegenwärtige – das Argument für höhere Steuern und die Umschichtung öffentlicher Ausgaben.

Hier geht es zum Gastbeitrag auf Handelsblatt.de.

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