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Oliver Koppel im Tagesspiegel Interview 11. Juni 2024

Migranten und Patente: „Jeder achte Erfindende heißt Abhijeet oder Mesut“

In vielen Betrieben spielen Menschen mit Migrationshintergrund eine immer größere Rolle. Warum ihr Beitrag zur Unternehmensleistung wächst und was das mit Patentanmeldungen zu tun hat, darüber spricht IW-Ökonom Oliver Koppel, Leiter der Patentdatenbank des IW, im Interview mit dem Tagesspiegel.

Herr Koppel, Ihr Forschungsteam hat die deutsche Patentdatenbank nach Erfindern mit migrantischen Wurzeln durchsucht. Wozu? 

Menschen mit Migrationshintergrund spielen in vielen Betrieben eine immer größere Rolle, ihr Anteil an den Mitarbeitenden wächst und auch ihr Beitrag zur Unternehmensleistung. Im Fachkräftebereich sehen wir das seit Jahren.

Wir wollten herausfinden, ob sich das auch im Innovationsbereich widerspiegelt, ganz konkret bei den Patentanmeldungen, dem höchstmöglichen intellektuellen Beitrag im technologischen Bereich, den ein Mensch für die Gesellschaft leisten kann, sozusagen dem Goldstandard bei der Messung von Innovationskraft.

Wie sind Sie darauf gekommen, das anhand von Vornamen zu berechnen, die sehr wahrscheinlich Wurzeln im Ausland haben?

Tatsächlich haben uns AfD-Politiker darauf gebracht, die zur Diskreditierung von Migranten sinngemäß behauptet haben, dass ein Mesut Deutschlands Innovationskraft sicher nicht voranbringt.

Was haben Sie herausgefunden?

Es lag auf der Hand, dass das so nicht stimmt, dennoch hat uns das Ergebnis überrascht: Heute heißt jeder achte Erfindende in Deutschland zum Beispiel Abhijeet, Mesut oder Agnieska. 13 Prozent aller hierzulande entwickelten Patentanmeldungen gehen auf Erfindende mit ausländischen Wurzeln zurück.

In den Dienstleistungsbranchen der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) spielen sie eine besonders große Rolle, dort sind es 23 Prozent der Patentanmeldungen. Ohne Erfinder mit migrantischen Wurzeln müssten die Softwarebranche und Co. auf rund ein Viertel ihrer Patentleistungen verzichten. Beim Marktführer SAP gehen sogar mehr als 50 Prozent aller Patentanmeldungen vollumfänglich auf diesen Personenkreis zurück.

Welche Bereiche betrifft das noch? 

Mit einigem Abstand folgen die Hochschulen, auf Platz 3 die Elektroindustrie. Grundsätzlich melden ausländisch geprägte Erfinder in allen technisch-naturwissenschaftlichen Branchen Patente an, vom Maschinenbau bis zur Metallindustrie. Auch die Automobilindustrie profitiert in großem Maße von Zuwanderung: Rund jedes dritte Patent eines ausländischen Erfinders wird in diesem Bereich angemeldet.

Was wird da erfunden? 

Zum Beispiel ein Rollator mit Elektromotor, der das Voranschreiten der Person unterstützt, ähnlich wie bei einem E-Bike. Oder die Daten komprimierende MP3-Technologie, die wir auf unseren Smartphones verwenden, auch zum Hören von Musik, ist in Deutschland erfunden worden. Patente werden angemeldet auf elektronische Geräte, chemische Düngemittel, medizintechnische oder pharmazeutische Innovationen, Impfstoffe. Die Bandbreite ist riesig.

Sie haben für Ihre Studie die Vornamen von Erfindenden analysiert. Klingt etwas beliebig. 

In der amtlichen Statistik der Patentanmeldungen wird die Staatsangehörigkeit der Erfindenden nicht angegeben. Um migrantische Wurzeln zu erkennen, haben wir deshalb ein Modul entwickelt, mit dem wir die Vornamen 24 Sprachräumen zuordnen, um die Region zu bestimmen, in der mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wurzeln der betreffenden Personen liegen.

Wie präzise ist das?

Wir gehen bei unseren Auswertungen von einer absoluten Untergrenze aus und zählen nur Erfindende dazu, die Vornamen wie Abhijeet oder Mesut haben, die ersichtlich noch nicht nach Deutschland diffundiert sind, also hier in der Regel nur verwendet werden, wenn eine Familie eindeutig ausländische Wurzeln hat. Auch Vornamen aus dem deutschsprachigen Ausland, der Schweiz und Österreich, fallen aus unserer Statistik heraus, weil dort ähnliche Vornamen wie in Deutschland üblich sind. Die tatsächliche Anzahl an Erfindenden mit Migrationshintergrund dürfte also nochmal deutlich über unserem Wert liegen.

Unser Vorgehen mag ungewöhnlich sein, ist aber womöglich aussagekräftiger als Statistiken zur Staatsangehörigkeit, denn viele Zuwanderer sind ja inzwischen Deutsche.

Jeder vierte Einwohner Deutschlands hat eine Einwanderungsgeschichte. Jede achte Erfindung wurde von einem Menschen mit Migrationshintergrund angemeldet. Hätten es, an dem Bevölkerungsanteil gemessen, nicht noch mehr sein können?

Der Bevölkerungsanteil ist eine Potenzialgruppe, das heißt aber nicht, dass er übertragbar ist auf den Anteil an der Innovationskraft. Zum Vergleich: Frauen haben einen Bevölkerungsanteil von 50 Prozent, ihr Anteil an Patentanmeldungen beträgt aber nur vier bis fünf Prozent.

Sind 13 Prozent Erfinder mit migrantischen Wurzeln eine Erfolgsgeschichte?

Ja, denn viele Menschen, die ab den 60er Jahren als Hilfsarbeiter nach Deutschland gekommen sind, hatten kein besonders hohes Ausbildungsniveau, haben in eher nicht patentrelevanten Jobs gearbeitet. In den Generationen danach sind viele auf der Bildungsleiter weiter nach oben gestiegen, haben zum Teil eine sehr hochwertige Ausbildung gemacht, mindestens eine Meister- oder Technikausbildung, sehr häufig sogar einen technisch-naturwissenschaftlichen Hochschulabschluss. Das braucht man, um Erfinder zu werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung hat die Qualifikation, ein Patent zu entwickeln.

Warum brauchen wir mehr Erfinder? 

In Deutschland ist die Mehrheit der Innovationsträger nach wie vor männlich und weiß geprägt. Doch das muss sich ändern, weil die Innovationskraft nachlässt, schon jetzt.

2020 wurden fünf Prozent weniger Patente angemeldet als 2010. Von Erfindenden aus dem deutschen Sprachraum sind sie in dem Zeitraum um 4750 oder elf Prozent gesunken. Das gleichen auch die 2300 mehr Patentanmeldungen von Erfindenden mit ausländischen Wurzeln (plus 64 Prozent) nicht aus.

Woran liegt das?

Die Bevölkerungszahl sinkt, damit auch das Potenzial für einen Innovationsbeitrag und der tatsächliche Beitrag an Patenten. Ein weiterer Grund sind die gravierenden Arbeitsmarktengpässe in technisch-naturwissenschaftlichen Berufen. Ohne Forscher und Entwickler keine Patentanmeldungen. Fehlen zunehmend die Köpfe, fehlen auch zunehmend die Forschungsergebnisse.

Und wie erklärt sich, dass immer mehr Migranten zu Erfindern werden?

Einerseits, wie gesagt, wegen des wachsenden Bildungsniveaus der in Deutschland aufwachsenden Migranten.

Zum anderen verzeichnen wir in den vergangenen Jahren an deutschen Hochschulen einen großen Zuwachs an Studierenden aus dem Ausland, aus China, Indien, auch aus nordafrikanischen Ländern, die typischerweise dazu neigen, sich in technischen oder naturwissenschaftlichen Fachrichtungen einzuschreiben. An manchen Universitäten sind in diesen Studiengängen zum Teil 60 bis 70 Prozent Bildungsausländer immatrikuliert, also Personen, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben.

Im Gegensatz zu Studierenden aus dem Inland, bei denen das Interesse an solchen Fächern eher sinkt, werden solche Fächer in Ländern mit geringerem Wohlstand oft als Aufstiegsfächer gesehen, von Männern, die damit soziale wie ökonomische Ziele verfolgen, von Frauen, die sich genau dadurch mehr Unabhängigkeit versprechen.

Und die ausländischen Hochschulabsolventen bleiben dann in Deutschland? 

Mehrheitlich ja. Die Arbeitsmarktaktivierung dieser Leute ist exzellent. Sie sprechen typischerweise die Sprache, finden sich schon in der Kultur zurecht, ein Studium ist ein perfekter Integrator und Vorbereiter auf den Arbeitsmarkt. Und das zeigt sich jetzt eben langsam auch bei den Patentanmeldungen.

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