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Michael Hüther in der Rheinischen Post Interview 2. Juli 2024

„Wir brauchen eine große Steuerreform”

Im Interview mit der Rheinischen Post spricht IW-Direktor Michael Hüther über das Stadt-Land-Gefälle, die AfD als Standortrisiko und neue Milliarden für die Bundeswehr.

Herr Hüther, Sie sind seit 20 Jahren an der Spitze des Instituts der deutschen Wirtschaft und einer der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Welche Krise in dieser Zeit war für Sie die schlimmste?

Nach der Auflösung des arbeitsmarktpolitischen Reformstaus mittels der Agenda 2010 vor allem die große Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2008, die massive Zuwanderung als Folge des Bürgerkriegs in Syrien 2015/2016, die Corona-Pandemie und schließlich der Überfall Russlands auf die Ukraine. Alle diese Krisen haben uns existenziell herausgefordert oder tun es noch heute. Für mich persönlich war die Corona-Pandemie am einschneidendsten. Sie hat das Land in den Ausnahmezustand versetzt.

Wurden die Grundrechte zu schnell eingeschränkt?

Natürlich ist man hinterher immer klüger. Man hätte die Schulen und den öffentlichen Raum nicht schließen dürfen. Das haben andere Länder anders gemacht. Es ist unverzeihlich, dass Deutschland da nicht genau hingeschaut und die Erfahrungen ausgewertet hat.

Vermissen Sie eine ehrliche Debatte über die Fehler?

Es gibt jetzt schon eine Debatte darüber, was man anders hätte tun können. Aber damals war es kaum möglich, andere Meinungen zu äußern. Denken Sie nur an die Formulierung von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder: „Team Vorsicht”. Eine Unverschämtheit. Wir waren ja in der Kommission von NRW-Landeschef Armin Laschet nicht unvorsichtig. Die Risiken des Lockdowns wurden komplett ausgeblendet. Übrigens war Wolfgang Schäuble der Einzige, der sich getraut hat zu sagen: Im Grundgesetz steht nicht der Schutz des Lebens als absoluter Wert, sondern die Würde des Menschen.

Jetzt fordert uns Russland massiv heraus. Reagieren wir richtig?

Russland ist seit Peter dem Großen eine imperialistische Macht. Die Zaren, die Sowjetunion und das heutige Russland – alle wollten immer ihr Gebiet massiv erweitern. Die Frage ist jetzt, wie lange die russische Bevölkerung bei diesem sich selbst verstärkenden Prozess mitmacht.

Kann Russlands Wirtschaft diese Expansion mittragen?

Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt. Und Rüstungsproduktion trägt nun mal dazu bei, dass das Bruttoinlandsprodukt steigt. Das ist nicht ungewöhnlich. Gleichzeitig sind die Ressourcen Russlands endlich. Der Arbeitsmarkt gibt nicht mehr viel her, und Gazprom verliert Kunden und Umsatz. China ist für Putin nur ein Hoffnungswert.

Die stärkere Wirtschaft ist der Vorteil des Westens. Müssten wir noch stärker hochrüsten?

Im Kalten Krieg gab die Bundesrepublik unter Friedenskanzler Willy Brandt 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus. Jetzt haben wir erstmals zwei Prozent geschafft im Angesicht der schweren Krise. Für die laufenden Ausgaben ist das erst einmal genug. Aber die Ausrüstung der Bundeswehr ist noch zu dürftig.

Was schlagen Sie vor?

Der Sonderfonds für die Bundeswehr beträgt 100 Milliarden Euro. Das reicht nicht aus. Wir benötigen eine Aufstockung auf 250 bis 300 Milliarden Euro. Nur so erreichen wir eine kriegstüchtige Ausstattung unserer Armee. Und das ist finanzierbar. Immerhin betrug die Friedensdividende seit 1990 rund 600 Milliarden Euro.

Was kann man tun, um das Wachstum anzukurbeln?

Wir könnten den Soli abschaffen, der zur Unternehmenssteuer geworden ist. Wir sollten Investitionsprämien einführen, um die investive Rezession zu überwinden. Wir brauchen auf Sicht eine große Steuerreform, die letzten gab es unter Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Dazu sollte es in der nächsten Legislaturperiode eine Kommission geben, die diese vorbereitet. Mit 30 Prozent Steuerlast für Unternehmen ist Deutschland trauriger Spitzenreiter.

Was hat Deutschland in den letzten Jahren eigentlich gemacht?

Wir haben die Friedensdividende, die uns die Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer brachten, leider nicht in Infrastruktur, Digitalisierung oder Bildung investiert. Wir haben diese Mittel zum Teil genutzt, um die Schulden zu senken. Wir haben sie aber vor allem konsumiert. Das rächt sich nun.

Was ist das Hauptproblem?

Das Hauptproblem in Deutschland ist das Stadt-Land-Gefälle. Vom „Deutschlandticket” haben Großstädter viel; auf dem Land, wo kein Bus fährt, haben die Bürger nichts davon. In einer Großstadt wie Berlin ist die Wärmewende kein Problem, auf dem Land lohnt sich Fernwärme nicht. Der Klimaschutz treibt die Spaltung von Stadt und Land voran. Auch bei der Gesundheitsversorgung gibt es dieses Gefälle.

Macht dieses Gefälle die AfD groß?

Wir sehen, dass die AfD im ländlichen Raum stärker ist als in Großstädten.

Wird die AfD nicht selbst zum Problem, gerade im Osten?

Die AfD ist ein Standortrisiko. Über 80 Prozent der 65 Wirtschaftsförderer, die in einer Befragung unserer Tochter IW Consult teilnahmen, schätzen die Auswirkungen des AfD-Erstarkens auf den Industriestandort als Risiko ein, nicht ein einziger erkennt im Aufstieg der Rechtspopulisten eine Chance. Wichtiger als Fensterreden ist es, in die Betriebe zu wirken.

Was also tun im Osten, 34 Jahre nach der Vereinigung?

Alles in allem hat die Vereinigung gut geklappt, nun muss der Osten seine Vorteile ausspielen. In den alten Ländern stehen nur bis zu acht Prozent der Fläche für Gewerbeansiedlungen zur Verfügung, in den neuen Ländern sind es 20 Prozent. Zudem strahlt Berlin erstmals seit dem Mauerfall positiv auf das Umland aus. Die Ansiedlung des Tesla-Werks ist ein Beispiel dafür.

Aber Milliarden-Subventionen für Intel verbieten sich wohl trotzdem aus ordnungspolitischer Sicht, oder?

Das darf man nicht dogmatisch sehen. Alle Halbleiterstandorte weltweit leben von Subventionen. Und ohne Subventionen nach dem Mauerfall wäre Dresden nie der fünftgrößte Mikrochip-Standort der Welt geworden. Entscheidend ist, was der Staat unterstützt. Sprung-Investitionen sind oft nur mit Subventionen möglich.

Ein Beispiel?

Die CO2-Bepreisung ist gut, wird aber wegen der schrittweisen Erhöhung der CO2-Preise nicht dazu führen, dass eine Branche von alleine radikal umstellt. Die Stahlproduktion wird nur klimafreundlich, wenn man die Konzerne unterstützt – sonst weichen sie den hohen Preisen aus und wandern ab. Und das ist möglich, weltweit sind nur 22 Prozent der Emissionen überhaupt bepreist.

Michael Hüther wird nach 20 Jahren an der IW-Spitze zum Keynesianer?

Man soll Keynesianer sein in keynesianischen Situationen. Und die hatten wir in den vergangenen Jahrzehnten nur einmal: 2009 nach der Weltfinanzkrise. Da war eine expansive Geld- und Fiskalpolitik genau richtig, die sich etwa in öffentlichen Investitionsprogrammen und Kurzarbeitergeld-Ausweitung zeigte.

Wie hat sich die Politikberatung des IW in dieser Zeit verändert?

Wir verstehen uns als Anwalt der sozialen Markwirtschaft und der Demokratie. Uns müssen nicht alle mögen, wir wollen aber nach allen Seiten dialogfähig sein. Unsere Beratung soll relevant sein, empirisch belastbar und politisch vermittelbar. Und mein Eindruck ist, dass wir uns in all diesen Kategorien ganz gut schlagen.  

Wie gut können die „Wirtschaftsweisen” noch als Berater sein, die sich auf offener Bühne streiten? Als früherer Generalsekretär haben Sie sicher einen besonderen Blick darauf.

Der Sachverständigenrat war stets zurecht stolz auf seine Unabhängigkeit. Indem ein Teil des Rates seinen Streit in Mails an Bundesminister öffentlich gemacht hat, gibt er genau diese Unabhängigkeit auf. Das ist bedauerlich. Offenbar ist eine interne Streitbeilegung missglückt – so schadet man seiner Rolle als Berater.

Zum Interview auf rp-online.de

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