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Jochen Pimpertz / Ruth Maria Schüler IW-Kurzbericht Nr. 34 10. Juni 2024 Rentenpolitik für oder mit alternden Mehrheiten?

Die Bevölkerung altert und die Versorgungsinteressen der betagten Bürger rücken damit zunehmend in den Mittelpunkt der Politik.

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Rentenpolitik für oder mit alternden Mehrheiten?
Jochen Pimpertz / Ruth Maria Schüler IW-Kurzbericht Nr. 34 10. Juni 2024

Rentenpolitik für oder mit alternden Mehrheiten?

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Die Bevölkerung altert und die Versorgungsinteressen der betagten Bürger rücken damit zunehmend in den Mittelpunkt der Politik.

Mit Blick auf die wachsende Gruppe älterer Bürger im wahlberechtigten Alter ließe sich deshalb plausibel erklären, warum Politiker ein stabiles Rentenniveau auf Kosten der Beitragszahler anstreben. Ob dieses politische Kalkül aber dauerhaft aufgeht, hängt davon ab, wie sich die jüngeren und im Besonderen die rentennahen Wählergruppen künftig verhalten.

Anfang der 2000er Jahre vollzog die rot-grüne Regierung einen rentenpolitischen Paradigmenwechsel. Angesichts der Alterung der Bevölkerung wollte man die Finanzierung der absehbar steigenden Rentenzahl nicht allein den Beitragszahlern aufbürden. Um die demografisch bedingten Zusatzlasten fair zu verteilen, sollte das Sicherungsniveau vor Steuern sukzessive sinken und damit der Beitragssatzanstieg gebremst werden.

In den vergangenen zehn Jahren ist die Rentenpolitik aber immer weiter von dem eingeschlagenen Reformpfad abgewichen. Auch das Rentenpaket II der Ampelkoalition rückt von den ursprünglichen Zielen ab. Wenn das Sicherungsniveau vor Steuern dauerhaft bei 48 Prozent fixiert wird, um allen Generationen eine verlässliche gesetzliche Absicherung gewährleisten zu können, dann gelingt das nur aufgrund noch höherer Beitragslasten. Allerdings tickt die demografische Uhr unerbittlich. Ging die Bundesregierung noch im Herbst des vergangenen Jahres davon aus, dass der Beitragssatz von heute 18,6 Prozent bis auf 21,1 Prozent im Jahr 2035 steigen muss, werden es mit dem Rentenpaket II sogar 22,3 Prozent sein (Pimpertz, 2024).

Politökonomisches Kalkül

Wie lässt sich diese Kehrtwende erklären? Die Zustimmung zur Rentenpolitik hängt maßgeblich von der Bevölkerungszusammensetzung und den Interessen der Wähler ab. Ökonomen unterstellen dabei, dass sich die Bürger beim Urnengang vor allem von ihren persönlichen Interessen leiten lassen. Sieht man von altruistischen Motiven ab, ist das Alter der potenziellen Wähler dabei ausschlaggebend. Denn in der umlagefinanzierten Rentenversicherung wirkt sich eine höhere Versorgung unmittelbar auf die Höhe der Beitragslast aus. Steht ein höheres Rentenniveau oder ein höherer Beitragssatz zur Wahl, dann ist zu vermuten, dass sich Personen im rentennahen Alter oder im Ruhestand eher zugunsten einer umfassenden Alterssicherung entscheiden, während jüngere Wahlbürger eher die Beitragslast in den Blick nehmen.

In einer alternden Bevölkerung droht deshalb mit dem wachsenden Stimmengewicht der älteren Bürger ein Szenario, in dem die Präferenzen zugunsten einer möglichst hohen Versorgung die Interessen der Beitragszahler dominieren (Pimpertz/Schüler, 2024, 44 ff.). Sinn und Uebelmesser (2002) prägten für dieses Szenario den Begriff „Gerontokratie“.

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Medianwähler und Wählergruppen

Gemeint ist damit eine Situation, in der der Wähler (Medianwähler), der die wahlberechtigte Bevölkerung in eine jüngere und eine ältere Hälfte teilt, ein Alter erreicht, in dem die Versorgungsinteressen typischerweise überwiegen. Politische Akteure erhöhen dann ihre Wiederwahlchancen, je besser es ihnen gelingt, ihre Programme möglichst passgenau auf die Interessen des Medianwählers abzustimmen. Je höher das Medianwähleralter, desto stärker rücken damit die Versorgungsinteressen der Älteren in den Mittelpunkt des politischen Kalküls.

Ein ähnliches Kalkül ginge auf, wenn man die potenzielle Stimmenmehrheit in der wahlberechtigten Bevölkerung in den Blick nimmt und dazu nach dem Alter unterscheidet:

  • Für Personen im jüngeren Erwerbsalter, zum Beispiel zwischen 18 und 49 Jahren, wird angenommen, dass sie eher an einer den Beitragssatz stabilisierenden Rentenpolitik interessiert sind. Denn in dieser Lebensphase steht typischerweise im Vordergrund, berufliche Qualifikationen zu erlangen, eine Familie zu gründen, vielleicht eine Immobilie zu erwerben und Weichen für die Altersvorsorge zu stellen. Dafür ist der Spielraum größer, je geringer die Belastung durch den Beitragssatz ausfällt.
  • Bei Personen im rentennahen Alter, zum Beispiel zwischen 50 und 66 Jahren, ist die Familienplanung abgeschlossen und die private Vorsorge ist bereits fortgeschritten. Die verbleibende Erwerbsphase fällt im Verhältnis zur erwarteten Rentenbezugsdauer immer weniger stark ins Gewicht. Damit rückt die gesetzliche Rente zunehmend in den Fokus.
  • Personen im Ruhestandsalter ab 67 Jahren, die bereits eine gesetzliche Rente beziehen, sind immer weniger in der Lage, ihre Einkommenssituation aus eigener Kraft aufzubessern. Sie dürften vor allem an der Absicherung ihrer Versorgung im Alter interessiert sein.

Deshalb steigt mit einem wachsenden Stimmenanteil der älteren Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit eines Wahlerfolgs, je besser es politischen Akteuren gelingt, die unterstellten Interessen der rentennahen und Ruhestandskohorten zu bedienen.

Alterung der Bevölkerung

Das Medianwähleralter der volljährigen Bevölkerung in Deutschland lässt sich mithilfe der Daten zur Bevölkerungsentwicklung schätzen (Statistisches Bundesamt, 2022). Das Alter des Medianwählers liegt aktuell bei 52 Jahren und wird in den kommenden Dekaden nur noch um ein Jahr steigen. Das spricht nicht etwa gegen die „Gerontokratie“-These. Vielmehr fällt das Alter bereits in die rentennahe Erwerbsphase, für die ein Interesse an einer umfassenden Versorgung unterstellt wird (Pimpertz/Schüler, 2024, 50).

Auch mit Blick auf die identifizierten Altersgruppen scheinen die Interessen der Beitragszahler unterrepräsentiert zu sein. Der Anteil der 18- bis 49-Jährigen erreicht aktuell einen Anteil von lediglich rund 45 Prozent und wird über die kommenden Jahrzehnte geringfügig schrumpfen. Eine auffällige Verschiebung findet dagegen zwischen den rentennahen Jahrgängen und Ruhestandskohorten statt. Machen die Bürger im wahlberechtigten Alter in der letzten Phase des Erwerbslebens derzeit noch 30 Prozent der volljährigen Bevölkerung aus, sinkt ihr Anteil bereits ab 2040 auf rund ein Viertel. Spiegelbildlich steigt der Anteil der Ruheständler ab 67 Jahren von aktuell 24 Prozent auf zunächst 29 Prozent im Jahr 2040 und danach weiter bis auf 31 Prozent (Grafik).

Riskantes politökonomisches Kalkül

Verändern sich die Wählerpräferenzen mit dem Alter (Alterseffekt), mündet das in einem pessimistischen Szenario: Auf absehbare Zeit zeichnet sich keine Mehrheit ab, die eine den Beitragssatz stabilisierende Rentenpolitik präferieren würde und als Zielgruppe für politische Akteure interessant wäre. Der Medianwähler ist annahmegemäß ohnehin bereits so alt, dass seine Versorgungsinteressen dominieren.

Ob das pessimistische Szenario eintritt, hängt aber maßgeblich von den unterstellten Interessen der Personen ab, die im rentennahen Alter zur Urne gehen. Das werden künftig in zunehmender Zahl Personen sein, die unter dem Eindruck der Reformdebatten Anfang der 2000er Jahre ein höheres Bewusstsein für die demo-grafischen Herausforderungen gebildet und bereits in die private Altersvorsorge investiert haben. Deren Spielraum dafür wird aber immer enger, je höher die Beitragslasten steigen. Deshalb ließe sich ebenso gut annehmen, dass die heute jüngeren Wählergruppen ihre Präferenz zugunsten einer den Beitragssatz stabilisierenden Rentenpolitik beibehalten, wenn sie ein höheres Lebensalter erreichen (Kohorteneffekt). Entscheidend wäre hier, ob sich die Interessen der rentennahen Jahrgänge weg vom Versorgungsinteresse hin zur Beitragssatzstabilität verschieben.

Dann aber geht das politische Kalkül nicht mehr auf. Mag eine generöse Rentenpolitik kurzfristig Aussicht auf Erfolg versprechen, müssen politische Akteure damit rechnen, bei kommenden Wahlen oder von vorausschauenden Wählern genau dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

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