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Thomas Obst / Maximilian Stockhausen / Arthur Metzger IW-Kurzbericht Nr. 47 26. Juli 2024 Inflation in der Eurozone: Der Weg bleibt holprig

Die Inflation in der Eurozone befindet sich auf dem Rückzug. Ein Aufatmen wäre aber verfrüht. Zweitrundeneffekte im Arbeitsmarkt sind im vollen Gange und setzen die Geldpolitik weiter unter Druck.

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Der Weg bleibt holprig
Thomas Obst / Maximilian Stockhausen / Arthur Metzger IW-Kurzbericht Nr. 47 26. Juli 2024

Inflation in der Eurozone: Der Weg bleibt holprig

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Die Inflation in der Eurozone befindet sich auf dem Rückzug. Ein Aufatmen wäre aber verfrüht. Zweitrundeneffekte im Arbeitsmarkt sind im vollen Gange und setzen die Geldpolitik weiter unter Druck.

In den vergangenen beiden Jahren waren Preissteigerungen zu beobachten, wie es sie das letzte Mal in den 1970er Jahren gab. Ursächlich für die hohe Inflation war damals wie heute ein exogener Angebotsschock auf den Gütermärkten (Erstrundeneffekte). In den 70er Jahren haben zwei massive Ölpreisschocks zu einer Stagflationskrise in vielen Industriestaaten geführt. Im Jahr 2022 verstärkten die Energiepreisschocks bei Erdgas und Erdöl bereits bestehende Angebotsverknappungen der Corona-Pandemie. Unterbrechungen in den globalen Wertschöpfungsketten führten beispielsweise zu einer Verknappung von Gütern auf der Angebotsseite und erhöhten damit den Preisdruck. Verschlechterte Handelsbedingungen bewirkten einen Abfluss der im Inland erwirtschafteten Einkommen. Dabei erlitten sowohl Unternehmen als auch private Haushalte Kaufkraftverluste.

Zur Bekämpfung der Hochinflation vollzog die Europäische Zentralbank (EZB) nach Jahren der expansiven Geldpolitik an der Nullzinsuntergrenze eine geldpolitische Wende. Sie erhöhte den Leitzins zwischenzeitlich auf 4,5 Prozent. Mit der ersten Leitzinssenkung im Juni 2024 löste sie Diskussionen über das richtige Timing im noch immer unsicheren wirtschaftlichen Umfeld aus.

Denn obwohl die Headline Inflation (Änderungsrate des harmonisierten Verbraucherpreisindex) in der Eurozone seit Oktober 2022 von 10,6 Prozent auf mittlerweile 2,5 Prozent im Juni 2024 gefallen ist, liegen die Kerninflationsrate (ohne Energie und Lebensmittel) mit 2,9 Prozent und die mit dem Lohnwachstum stark zusammenhängende Dienstleistungsinflationsrate mit 4,1 Prozent noch deutlich über dem mittelfristigen Inflationsziel von 2 Prozent für die Eurozone. Die Teuerung in Europa, die ursprünglich durch exogene Energiepreisschocks verursacht war, wird zunehmend durch binnenwirtschaftliche Preistreiber im Güter- und Arbeitsmarkt (Zweitrundeneffekte) getrieben. Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale und damit verbundene adverse wirtschaftliche Effekte rücken damit in den Fokus.

Lohn-Preis-Spirale oder „Gierflation“?

In der Debatte zu den Ursachen der Hochinflationsphase stehen sich unterschiedliche Erklärungsansätze gegenüber. Einer sieht das Motiv im Profitstreben der Unternehmen und spricht von „Gierflation“. Dahinter steckt die Idee, dass Unternehmen durch exzessive Profitsteigerungen das inflationäre Umfeld der vergangenen beiden Jahre zu ihrem Vorteil genutzt haben. Dabei wird angenommen, dass vor allem große Unternehmen mit Marktmacht die hohen Preise auf die Konsumenten überwälzt haben, um die Gewinnmargen konstant zu halten oder eben aus „Gier“ zu steigern. Es wird unterstellt, dass es einen systematischen Zusammenhang zwischen Profiten und Preisen gibt, der unter bestimmten Umständen nicht nur temporär ist (Weber/Wasner, 2023).

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In der Makroökonomie gibt es jedoch keinen theoretischen Zusammenhang zwischen Unternehmensgewinnen und Preisen, die einen dynamischen und anhaltenden Inflationsprozess erklären (Obst/Stockhausen, 2024). Im besten Fall können die gestiegenen Preise als kurzfristige Reaktion auf exogene Kostenschocks interpretiert werden. Hinzu kommt, dass ein Anstieg der relativen Preise bei Vorleistungsgütern dazu führt, dass der Anteil der Profitsumme an der Bruttowertschöpfung zunimmt, obwohl sich die Preisstrategien der Firmen nicht geändert haben (Colonna et al., 2023).  Auch die Empirie konnte bislang keine klare Evidenz für eine Profit-Preis-Spirale mit gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen aufzeigen. Nur in einzelnen Sektoren und Ländern lassen sich temporäre Anstiege der Gewinnaufschläge ausmachen (Colonna et al., 2023).

Die gängige makroökonomische Erklärung einer binnenwirtschaftlich verursachten Inflationsdynamik findet sich in der Lohn-Preis-Spirale (Obst/Stockhausen, 2024). Den meisten Kostentreibern, die nicht von den Löhnen abhängen, liegen keine inhärenten Tendenzen zu kumulativen Preissteigerungen zugrunde. Exogene Schocks wie etwa ansteigende Energiepreise können den Inflationsprozess zwar anstoßen, ihn aber nicht kontinuierlich nähren. Anders sieht es bei den sogenannten Zweitrundeneffekten im Arbeitsmarkt aus. Hier werden Arbeitnehmer über höhere Lohnforderungen versuchen, ihre Kaufkraftverluste auszugleichen. Um höhere Lohnkosten bei möglichst konstanter Profitmarge bewältigen zu können, reagieren Unternehmen wiederum mit weiteren Preissteigerungen, sodass es zu einer Lohn-Preis-Spirale kommt. Diese kann als Kostendruckinflation verstanden werden, in dem die Nominallöhne die Inflation selbst anfeuern oder zumindest die Phase der Desinflation verlängert.

Inflationstreiber im Inland

In welchem Umfang Löhne und Profite neben veränderten Gütersteuern zum Inflationsgeschehen beigetragen haben, ist in der Abbildung dargestellt. Dazu wird die Entwicklung der Inflationsrate in der Eurozone, gemessen als Änderungsrate des BIP-Deflators, zwischen dem 1. Quartal 2019 und dem 1. Quartal 2024 betrachtet. Der Vorteil des BIP-Deflators liegt darin, dass dieser die binnenwirtschaftlichen Preistreiber im Unterschied zur importierten Inflation sichtbar macht. Die einzelnen Wachstumsbeiträge lassen sich in drei Bereiche aufteilen: Lohnstückkosten, Stückgewinne und Gütersteuern. Diese Analyse ist eine buchhalterische Übung, um die Inflationstreiber zu zeigen. Sie lässt Rückschluss auf mögliche Wirkungszusammenhänge zu – ohne kausale Aussagen zu treffen.

2019 geht der höchste Wachstumsbeitrag von den Lohnstückkosten für die moderate Inflation von unter 2 Prozent in der Eurozone aus. Zwischen dem 1. Quartal 2020 und dem 2. Quartal 2021 fällt die Änderungsrate des BIP-Deflators von fast 3 auf 1 Prozent. Hier wirkten sich die umfangreichen staatlichen Stützungs- und Entlastungsmaßnahmen preisdämpfend aus. Im 2. Quartal 2020 hatten Gütersteuern einen negativen Wachstumsbeitrag von 2 Prozentpunkten, während die Lohnstückkosten rund 5 Prozentpunkte beitrugen. Die Stückgewinne, welchen den Gewinn je produzierter Einheit angeben, hatten einen leicht negativen Wachstumsbeitrag von 0,2 Prozentpunkten. Somit lag die Änderungsrate des BIP-Deflators bei 2,8 Prozent im 2. Quartal 2020. Die Stückgewinne, welche den durchschnittlichen Gewinn je produzierter Einheit in einer Volkswirtschaft darstellen, entwickelten sich vor allem in der ersten Jahreshälfte 2021 überdurchschnittlich mit einem Wachstumsbeitrag von rund 2 Prozentpunkten im 1. Quartal 2021 und 2,4 Prozentpunkten im 2. Quartal 2021. Zwischen dem 2. Quartal 2021 und dem 2. Quartal 2022 spielte die Rücknahme von Steuervergünstigungen, ausgedrückt durch den größeren Wachstumsbeitrag der Gütersteuern, eine größere Rolle. Die Inflation steig auf rund 4,7 Prozent im 2. Quartal 2022.

Seit dem Sommer 2022 wird der von der EZB als ‚tit for tat‘ bezeichnete Prozess deutlich. Dieser impliziert ein gegenseitiges Hochschaukeln von Löhnen und Gewinnen, da beide Seiten die entstandenen Wohlfahrtsverluste ausgleichen wollen (Obst/Stockhausen, 2024). Diese Zweitrundeneffekte im Güter- und Arbeitsmarkt haben dazu geführt, dass sowohl Stückgewinne als auch Lohnstückkosten die Inflation binnenwirtschaftlich treiben. Im 1. Quartal 2023 erreichte die Steigerungsrate des BIP-Deflators mit rund 6,5 Prozent den Höhepunkt. Dabei trugen die Stückgewinne 3 Prozentpunkte und die Lohnstückkosten etwa 3,2 Prozentpunkte bei.

Während der relative Anteil der Stückgewinne seit dem 1. Quartal 2023 kontinuierlich zurückgeht, bleibt der Wachstumsbeitrag der Lohnstückkosten bis zum 1. Quartal 2024 nahezu unverändert. Hinzu kommt der erneut steigende Anteil der Gütersteuern im Jahr 2023. In den letzten fünf betrachteten Quartalen waren es somit vorwiegend Lohnstückkosten, welche die Lohnkosten ins Verhältnis zur Arbeitsproduktivität je Arbeitnehmer setzen, die die Inflationsrate trieben. Zu Jahresanfang 2024 haben Stückgewinne einen negativen Wachstumsbeitrag. Das weist darauf hin, dass Unternehmen auf Gewinnmargen verzichten, während Lohnforderungen mit Zeitverzögerung hoch bleiben. Verstärkt wird die Dynamik bei den Lohnstückkosten nicht nur durch hohe Tarifabschlüsse, sondern auch durch eine fallende Arbeitsproduktivität im Euroraum.

Mit Blick auf die Erfahrungen der 1970er Jahre ist festzuhalten, dass die Gefahr einer verlängerten Desinflation durch Zweitrundeneffekte im Arbeitsmarkt noch nicht gebannt ist. So orientieren sich die aktuellen Lohnverhandlungen nicht mehr am Produktivitätswachstum, sondern an der Entwicklung der tatsächlichen Inflationsrate. Damit gerät die Lohnpolitik in Konflikt mit der Geldpolitik. Auch wenn höhere Arbeitskosten und schwaches Produktivitätswachstum von den Unternehmen über niedrigere Gewinnmargen zuletzt aufgefangen wurden, besteht weiterhin die Gefahr einer Lohn-Preis-Dynamik, die die EZB zu einer restriktiven Geldpolitik bewegt. Darunter würde insbesondere die deutsche Volkswirtschaft leiden (Förster/Obst, 2023).

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