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Hagen Lesch in der Lebensmittelzeitung Interview 20. August 2024

„In der Süßwarenindustrie droht keine Endlosspirale wie im Handel“

IW-Tarifexperte Hagen Lesch untersucht, wie konfliktreich Tarifverhandlungen sind. Im Interview mit der Lebensmittelzeitung erklärt er, warum es im Handel zuletzt besonders ruppig war und was er für die Gespräche in der Süßwarenbranche erwartet.

Die jüngsten Tarifverhandlungen im Einzelhandel waren zäh: Nach mehr als einem Jahr einigten sich die Arbeitgeber und die Gewerkschaft Verdi im Mai im Tarifgebiet Hamburg auf einen Abschluss, den andere Regionen später nachgezeichnet haben. Auch im Großhandel gibt es seit einigen Wochen eine Einigung. In beiden Fällen hatte es diverse Streiks gegeben und die Verhandlungen waren zwischenzeitlich pausiert worden.

Dass der Konflikt im Handel besonders heftig war, zeigt sich auch im frisch veröffentlichten Tarifmonitoring des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Die Ökonomen haben im ersten Halbjahr 2024 insgesamt 23 Tarifverhandlungen in 20 Branchen näher untersucht und die Konfliktintensität gemessen. „Am ruppigsten ging es im Handel zu“, bilanzieren sie; die Branche erreichte in dem Monitoring die höchste Punktzahl. Warum das so ist und wie die vor wenigen Wochen begonnenen Verhandlungen in der Süßwarenindustrie verlaufen könnten, erklärt Hagen Lesch, der das Tarifmonitoring am IW entwickelt hat.

Herr Lesch, Sie messen das Klima und die Konfliktintensität von Tarifverhandlungen. Wie machen Sie das?

Wir messen das anhand einer Skala mit sieben Eskalationsstufen bis hin zum Arbeitskampf. Damit schauen wir uns zum einen an, bis zu welcher Stufe ein Konflikt eskaliert – das ist ein eher statisches Maß. Zum anderen lässt sich die Dynamik oder Intensität eines Tarifkonfliktes abbilden, indem man die einzelnen Eskalationshandlungen addiert.

Aus welchen sieben Stufen besteht die Skala?

Der normale Zustand in jedem Tarifkonflikt ist die Verhandlung, deswegen hat sie die Stufe 0. Stufe 1 sind Drohungen, in der Regel Streikandrohungen der Gewerkschaften, aber auch Arbeitgeberdrohungen, etwa die, dass Produktionen und Arbeitsplätze ins Ausland verlegt werden. Auf Stufe 2 folgt der Abbruch der Verhandlungen und auf Stufe 3 der Streikaufruf. An vierter Stelle steht der Warnstreik und danach das Scheitern der Tarifverhandlungen: Gescheiterte Verhandlungen mit anschließender Schlichtung ist Stufe 5, gescheiterte Verhandlungen mit anschließender Urabstimmung ist Stufe 6. Die finale Eskalationsstufe ist der Arbeitskampf, also Streiks und Aussperrungen. Ihrem Monitoring zufolge waren sowohl die maximalen Eskalationsstufen als auch die Intensität der einzelnen Konflikte in den vergangenen Monaten sehr hoch.

Warum?

Wir haben seit 2023 ein weit überdurchschnittliches Eskalationsniveau, weil die Tarifverhandlungen durch Nachschlagdebatten geprägt sind. Das bedeutet, die Gewerkschaften wollen die krisenbedingten Reallohnverluste ausgleichen. Sie gehen mit sehr hohen Lohnforderungen in die Tarifverhandlungen und treffen dort auf begrenzt konzessionsbereite Arbeitgeber. Der Grund: Wir befinden uns gerade in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld, die Arbeitgeber müssen selbst auf die Kosten achten und haben nicht gerade die Spendierhosen an. Diese Nachschlagdebatten hat es nicht einmal nach der Wirtschafts- und Finanzkrise gegeben. Die sind neu. Aber wir hatten, seit wir das Monitoring machen, auch noch nie so ein Inflationsproblem.

Sie sagen, am ruppigsten waren zuletzt die Tarifverhandlungen im Handel. Woran liegt das?

Im Handel sind die meisten Konfliktpunkte, die in unsere Messung eingegangen sind, schon 2023 angefallen, auch wenn es auch in diesem Jahr noch Warnstreiks gab. Mit Blick auf den Handel hat man sich schon im vergangenen Jahr gefragt, ob die Tarifparteien noch einigungsfähig sind. Es wurde zwar verhandelt, aber für einen Außenstehenden war ein echter Verhandlungswille gar nicht mehr erkennbar. Immer wieder sind beide Seiten auseinandergegangen und es kam zu Warnstreiks. Die Arbeitgeber haben irgendwann zum Instrument der freiwilligen Entgelterhöhung gegriffen, um der Gewerkschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auf Gewerkschaftsseite wiederum kam dazu, dass die Bundesebene den verhandelnden Regionen zu wenig freie Hand gelassen hat. Insgesamt war es sehr verquer in den Verhandlungen.

Was bedeutet das für künftige Tarifverhandlungen, auch in anderen Branchen?

Das Phänomen, dass wir Reallohnverluste sehen und die Mitglieder den Gewerkschaften Druck machen, haben wir natürlich nicht jedes Jahr. Irgendwann sind die Reallohnverluste ausgeglichen. Was aber heraussticht, ist, dass die Tarifparteien es geschafft haben, über lange Laufzeiten Brücken zu bauen. In vielen Branchen – beispielsweise auch im Handel – haben die Verträge Laufzeiten von drei Jahren, und darüber kommt man sich entgegen. Sobald die einzelnen Stufen der Tariferhöhungen umgesetzt sind, sind künftige Verhandlungen dann wahrscheinlich nicht mehr so stark durch Nachschlagdebatten geprägt.

Auch in der Süßwarenindustrie soll es neue Tarifverträge geben; derzeit laufen die Verhandlungen in sechs Tarifgebieten. Wie lautet Ihre Prognose?

Der Ausgleich der Reallohnverluste steht auch hier im Mittelpunkt. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist allerdings nicht unbedingt eine extrem konfliktfreudige Gewerkschaft. In der Süßwarenindustrie gibt es normalerweise nur eine Warnstreikwelle. In den ersten Tarifgebieten gab es auch schon Warnstreiks, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Berlin und in Bayern. Es kann trotzdem sein, dass sich das zwei Mal entzündet und es eine weitere Warnstreikwelle gibt; es wird ja Anfang September weiterverhandelt. Aber ich gehe davon aus, dass sich beide Seiten spätestens in der dritten Runde einigen. Allerdings läuft im Hintergrund der Entgelttarifrunde noch ein weiterer Konflikt, nämlich der über einen Tarifvertrag zur Eingruppierung.

Was bedeutet das?

Inwiefern dieser Konflikt in die aktuell laufenden Entgelttarifverhandlungen reinspielt, ist nicht ganz klar. Was aber ein gutes Zeichen ist: Beide Seiten haben verabredet, dass sie, wenn diese Verhandlungen zur Eingruppierung scheitern, einen Schlichter anrufen. Unabhängig davon glaube ich aber nicht, dass in der Süßwarenindustrie eine Endlosspirale wie im Handel droht. Es wird wahrscheinlich in der zweiten oder dritten Verhandlungsrunde eine Einigung zur Entgeltrunde geben und das Thema Eingruppierung weiter separat verhandelt.

Zum Interview auf lebensmittelzeitung.net.

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