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Michael Hüther im Handelsblatt Gastbeitrag 21. August 2023

Jetzt ist die Zeit für die große Steuerreform

Die industrielle Rezession in Deutschland erstickt jede Hoffnung auf eine Wende im Keim. Ein „Wachstumschancengesetz” reicht bei Weitem nicht, meint IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastkommentar für das Handelsblatt.

Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Über die ökonomische Wirklichkeit gibt es derzeit keinen Grundkonsens. Der Bundeskanzler bezeichnet kritische Berichte, die jüngst im "Economist" in der Frage gipfelten, ob Deutschland - wie 1998 - erneut der kranke Mann Europas sei, als unbegründeten Pessimismus und Schlechtrederei. Die konjunkturellen Fakten und die Wachstumsaussichten sprechen hingegen eine deutliche Sprache. Die industrielle Rezession, seit Anfang 2018 in Gang, erstickt jede Hoffnung auf eine starke und nachhaltige Wende im Keim; das bestätigt der Monatsbericht des Bundeswirtschaftsministers. Der Wachstumstrend dürfte in den kommenden Jahren nur noch bei einem halben bis einem drei viertel Prozent liegen, der Hälfte des Wertes bis zur Pandemie. Dahinter stehen die demografische Alterung und die Investitionsschwäche.

Wer die Transformation zur Klimaneutralität ernst nimmt, der muss jetzt wachstumspolitisch handeln. Es funktioniert nicht, diesen Umbau der Volkswirtschaft von den Voraussetzungen für Wertschöpfung und Wachstum zu entkoppeln. Allein der Fachkräftemangel macht das deutlich, ebenso die Verunsicherung der Investoren. Daran muss sich die Wirtschafts- und Finanzpolitik messen lassen; schöne Bezeichnungen wie "Wachstumschancengesetz" reichen nicht. Aber immerhin wird damit erstmals in dieser Legislatur der Schwerpunkt auf die ökonomischen Bedingungen gelegt.

Das Gesetz wird sicherlich in den kommenden Wochen verabschiedet. Die sachfremde Blockade durch die Familienministerin ist in ihrer Wirkung aber nicht mehr zu heilen. Die Hoffnung in den Unternehmen, nach der Sommerpause fasse die Koalition neu Tritt und handle in gemeinsamer Verantwortung, ist willkürlich zerstört worden. Die psychologische Wirkung kann man nicht überschätzen; eine Stabilisierung der Erwartungen bei den Investoren wird so leicht nicht mehr gelingen. Dabei ist das Wachstumschancengesetz noch nicht mal der große Wurf, es ist eine Ansammlung richtiger und wichtiger Änderungen des Steuerrechts. Der Ausblick auf eine große Steuerreform ist damit nicht verbunden.

Wer die Chancen für das Wachstum verbessern will, der muss an den zentralen Wachstumshemmnissen ansetzen. Diese sind nicht nur steuerlicher Herkunft, aber dort liegt ein großer Hebel. Die letzte größere Reform der Unternehmensbesteuerung wurde 2008 auf den Weg gebracht, andere Staaten haben sich zwischenzeitlich bewegt. So lag die effektive Steuerbelastung für Unternehmen 2022 hierzulande bei 28,8 Prozent, im Durchschnitt der Europäischen Union hingegen bei 18,8 Prozent. Dafür erhalten die Unternehmen in Deutschland keine bessere Infrastruktur, keine effizientere Verwaltung und haben dank Frau Paus auch nicht die Aussicht auf eine verlässlichere Wirtschaftspolitik.

Schnell und einfach könnte die Bundesregierung den Rest-Solidaritätszuschlag - nahezu eine Unternehmenssondersteuer - abschaffen und eine Entlastung von zwölf Milliarden Euro gewähren. Diese wäre kombiniert mit der Investitionsprämie, die allerdings digitale Neuerungen nicht ausschließt, der Verbesserung der steuerlichen Forschungsförderung und einer großzügigen Ausweitung des steuerlichen Verlustabzugs ein gesetzlicher Aufschlag, der den Unternehmen in der Transformation mehr Raum für die notwendigen Anstrengungen ließe. Doch schon dieses Paket scheitert an den Möglichkeiten des Bundeshaushalts. Denn die jährlichen Mindereinnahmen beliefen sich insgesamt auf rund 20 Milliarden Euro. Vergleichbare Ausgabeneinsparungen sind nicht zu sehen, zudem sind für Verteidigung und innere Sicherheit zweifellos zusätzliche Beträge aufzubringen.

Die dringend gebotene Abflachung des anreizfeindlichen Mittelstandsbauchs im Einkommensteuertarif - durch einen linear-progressiven Verlauf und eine Verschiebung des Spitzensteuersatzes - würde zusätzlich hohe Steuerausfälle verursachen. In den Wahlprogrammen aller Koalitionsparteien für 2021 waren in diese Richtung weisende Tarifreformen in Aussicht gestellt worden. Davon ist nicht mehr die Rede. Auch die Möglichkeit einer dreistufigen Steuerreform wie 1986/1988/ 1990 und erneut 2001/2003/2005 wird offensichtlich nirgends erwogen.

Politisch gibt es keinen Weg, eine solche Steuerentlastung im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse umzusetzen. Möglich sind Einmalausgaben, die in vielfältigen Sondervermögen verbucht werden. Ansonsten gilt: Steuerreformen müssen vorfinanziert werden, eine Selbstfinanzierung ist nicht mehr möglich. Die Schuldenbremse entpuppt sich als effektive Steuersenkungsbremse. Das ist wachstumspolitisch verheerend.

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